Warum die Gedichte von Erich Fried lesen?

Warum die Gedichte von Erich Fried lesen?

Zum Start ins Jahr 2023 biete ich einen Yogakurs zum Thema „Yoga und Lyrik“ an. Es ist, wie so oft, ein kleines Experiment. Ich möchte pro Einheit eingangs ein Gedicht von Erich Fried vorlesen und kurz, sofern es passend erscheint, eine Verbindung zur Yogaphilosophie knüpfen. Dann ist alles wie gewohnt. Wir üben Asana und Pranayama und jede:r geht seinen bzw. ihren eigenen inneren Weg. Erfahrungsgemäß färben solch einleitende Impulse die Qualität der Stunde. Aber das ist kein Muss, kein zwingend zu erreichendes Ziel. Jede:r Teilnehmende entscheidet letztlich ja auch selbst, wie sehr er oder sie diese Impulse in seinen bzw. ihren eigenen Erfahrungsraum einlädt.

In diesem Beitrag möchte ich erklären, wieso mir die Lyrik von Erich Fried so bedeutsam ist.

Seine Liebesgedichte sind berühmt und weltweit übersetzt. Sie eignen sich wohl am besten für Impulse, die auch spirituelle Fragen anstoßen. Aber Fried war vor allem ein sehr politischer Mensch. Er sprach unangenehme Wahrheiten aus, in anderen Gedichten ist viel Bitterkeit und auch Wut spürbar. Er war ein Warnender, der wachrütteln wollte. Ich meine, auch das passt zum Yoga – das Wachwerden. Ich verstehe diesen Prozess ja durchaus politisch, darum habe ich das Buch „Yoga und soziale Verantwortung“ geschrieben.

Aber das erklärt noch nicht ganz, warum es mir jetzt so bedeutsam scheint, mich mit den Texten von Erich Fried auseinanderzusetzen. Dafür muss ich zurück in meine Jugendtage gehen.

Ich bin im Jahre 1964 geboren. Das heißt, Volksschule und Mittelschule in den 1970er bis hinein in die 1980er Jahre. Es waren die goldenen Zeiten unter dem „Sonnenkönig“ Bruno Kreisky, der 1971, 1975 und 1979 mit der SPÖ jeweils die absolute Mehrheit erreichte. Er trug bewusst dazu bei, mein Heimatland mit dem Image einer „Insel der Seligen“ quasi aufzupolieren. Österreich, der neutrale Wohlfahrtsstaat, wo Arbeitgeber:innen und -nehmer:innen sich in jährlichen sozialpartnerschaftlichen Verhandlungen stets einig wurden. Österreich, ein Land mit einem hohen Grad an sozialem Frieden sowie Bildungs- und Aufstiegschancen für alle Gesellschaftsschichten. Bildung auch, um aus der Geschichte zu lernen: „Nie wieder Faschismus“ und „Nie wieder Krieg in Europa“! Für mich als Jugendliche waren das keine hohlen Parolen, für mich waren das heilige Versprechen, sie gaben mir Sicherheit und Zuversicht. Meine Eltern hatten beide durch die Kriegswirren ihre Heimat verloren. Für mich war klar, dass das alles nie wieder passieren durfte.

Die intellektuellen Garanten meiner friedensbewegten Studientage in den 1980er Jahren waren u. a. zwei Personen des öffentlichen Lebens: Der Lyriker Erich Fried und Viktor Frankl, Begründer der Existenzpsychologie und Logotherapie. Beide Persönlichkeiten waren über jeden Zweifel erhaben, hatten sie doch als jüdische Bürger Verfolgung und auch die Ermordung Teile ihrer Familie durch die Nationalsozialisten erlebt. Ihre Friedensbewegtheit, ihre Verbindlichkeit, das Trotzdem von Frankl machten der nachgeborenen Generation, die aus der Geschichte lernen wollte, eine versöhnliche Türe auf. Ja, so sah ich das.

Erich Fried lebte in England, reiste aber viel, auch nach Österreich. Anlässlich des österreichischen Nationalfeiertages 1984 hielt er im Wiener Volkstheater die Rede „Einige Worte zu Österreichs kultureller Eigenart". Zwei Jahre später rüttelten die Diskussionen um die Wahl von Kurt Waldheim zum Bundespräsidenten Österreich auf. Ausgelöst wurden sie durch diffuse Statements des Kandidaten über seine Position in der Wehrmacht. Da wurde es vielen erstmals bewusst, dass wir die „Insel der Seligen“ längst verlassen hatten. Ich erinnere mich an heftige Streitgespräche rund um die Weihnachtszeit, die ich mit meinem Vater über das Thema Pflichterfüllung geführt hatte. Mein Vater hatte sieben Jahre als Wehrmachtssoldat dienen müssen. Natürlich musste ich mir den Vorwurf anhören, ahnungslos zu sein und als Nachgeboren allzu leichtfertig zu urteilen. Aber gerade deshalb: Unvergesslich ist mir die Rede von Viktor Frankl 1988 anlässlich des Gedenkjahres zum „Anschluss“ Österreichs an das Nazi-Deutschland. 35.000 Menschen hörten ihm am Rathausplatz in Wien zu.

Die Warnungen waren notwendig und wurden auch gehört, aber in den 1990er Jahren begann sich das gesellschaftspolitische Bewusstsein trotzdem gewaltig zu wandeln. 1995 erfolgte der EU-Beitritt Österreichs, scheinbar ein Schritt hin zu einem geeinten Europa, zu noch mehr Solidarität, Stabilität und Frieden. Doch nicht alle waren damit einverstanden. Schon ab 1990 verzeichnete die rechtspopulistische Partei Österreichs mit ihrem charismatischen Hauptproponenten Jörg Haider unerwartete Stimmenzuwächse. Und mit diesem Erfolg wurde wieder eine Denkungsart salonfähig, die mich erschreckte, wurden auf einmal sprachliche Hoppalas verharmlost, die nicht zu dem heilen Bild Österreichs passten, auf das ich mich als junger Mensch eingeschworen hatte. Diese angeblichen einmaligen Ausrutscher repräsentierten nicht das Bewusstsein von Nachgeborenen, die aus der Geschichte gelernt hatten. Nein, ganz im Gegenteil! Und sie setzten auf Provokation.

Dass auch in Europa wieder Krieg möglich ist, wurde uns allen durch die Balkankriege in den 1990er Jahren klar. Und im Jahr 2000 stieg dann der ÖVP-Kanzler Wolfgang Schüssel lachend in den blauen Porsche von Landeshauptmann Jörg Haider ein. Spätestens mit dieser symbolträchtigen Spritztour zerbrachen die Reste meines Sicherheitsgefühls, in das ich mich als junge Frau wie in einen Schutzmantel eingehüllt hatte.

Nochmals die Frage: Warum jetzt Erich Fried lesen? Auch wenn vieles anders gekommen ist?

Ich denke, gerade deshalb! Wir sollten seine Texte gerade deshalb wieder zur Hand nehmen. Seine Warnungen sind zeitlos. So wie die Liebe, über die er sich auch so gerne ausformuliert hat.

Mit den Konzepten Viktor Frankls bzw. mit Kernsätze aus der Logotherapie habe ich schon einmal einen Yogakurs gestaltet. Der Titel lautete damals im Frühjahr 2019: „Von Erd- und Himmelswurzeln“. Nun probiere ich es also mit einem weiteren wortgewaltigen Helden meiner Studientage. Und ich freue mich wie immer über Yogin:is, die sich mit mir auf dieses Experiment einlassen möchten.