Verzicht und Zufriedenheit – zwei Seiten einer Medaille

Verzicht und Zufriedenheit – zwei Seiten einer Medaille

Der Verzicht

Mein Buch über die Ethik des Yoga ist auch eine Art Selbstversuch. Asana, Pranayama und Meditation habe ich gelernt zu praktizieren, aber wie könnte ich Moral üben? Die Yama- und Niyama-Prinzipien bilden den Inhalt der ersten beiden Stufen des „Achtfachen Pfades“ im Yoga-Sutra. Der Text wurde vor rd. 2.000 Jahren niedergeschrieben, als Verfasser wird ein Grammatiker namens Patanjali vermutet. Im 21. Jh. ist vor allem die 3. Stufe, die Asanapraxis, in der Wahrnehmung von Yoga stark präsent, während das moralische Fundament meist in der Theorie verhaftet bleibt.

Könnte Ethik nicht mehr bieten? Halt oder noch besser Haltung geben in einer Welt, die immer unruhiger und beunruhigender wird? Als Yogini des Westens suchte ich dafür ein säkulares Denk- bzw. Übungskonstrukt. Ethik ist für mich die Basis jeder spirituellen Praxis, ob es sich um ein religiöses Glaubensmodell oder um individuelle Erfahrungen handelt. Diese Basis soll die Essenz von allem sein. Das, was uns alle verbindet. Überdies leben immer mehr Menschen ohne Konfession, und auch sie müssen täglich moralische Entscheidungen treffen. 2017 waren es in Österreich schon 17% der Gesamtbevölkerung. [i]

Der Soziologe Emile Durkheim hielt 1902/03 an der Sorbonne eine Vorlesung über die Kriterien von Moralität. Er suchte eine säkulare Erklärung dafür, woran moralisches Handeln zu messen sei und lieferte 3 Begriffe: Freiwilligkeit, Verzicht und Verbundenheit. Während in Corona-Zeiten das freiwillige Handeln im Interesse der Allgemeinheit intensiv diskutiert wurde und wir auch die Grenzen unserer gegenseitigen Toleranz erleben durften, ist durch den Ukraine-Konflikt der Verzicht als moralisches Kriterium medial stark in den Vordergrund gerückt. Und wie zuvor die Freiwilligkeit, nutzt sich auch unser Potential an Verzichtsbereitschaft ab, aufgerieben durch die Dauer des Konflikts, vermehrte Ängste und Überforderung in Anbetracht immer komplexer werdender Sachverhalte. Mit der gestiegenen Inflation ist der Verzicht auch im Geldbörsel der Konsument:innen angekommen. Unser Handlungsspielraum wird enger, wo bleibt also noch Muße für moralisches Handeln im Sinne Durkheims?

Schade ist das, meine ich. Wir hätten mehr Zeit zum Üben des freiwilligen Verzichts gebraucht – zum Wohle der Allgemeinheit und für eine enkeltaugliche Zukunft. Dabei sind weder die Corona- noch die Ukraine- bzw. die Energiekrise vom Himmel gefallen. Wer es wissen wollen, hätte schon längst üben können.

Zu üben hat den Vorteil, dass ich in einem entspannten Zustand bin und nicht unter existenziellem Entscheidungsdruck stehe. Ich habe jedes Yama (Gewaltfreiheit, Wahrhaftigkeit, Respekt vor den Rechten anderer, gemäßigter Lebenswandel und das Nicht­­horten) testweise in ein imaginäres Übungsfeld gestellt und auf Durkheims Kriterien durchleuchtet, wobei ich als 4. Messlatte die Zukunftsorientiertheit beigestellt habe. Der Versuch hat gut funktioniert, mein Denken hat sich an diesen Kriterien geschärft. Probieren Sie es aus! Sie könnten auch nur eine Frage, die Sie beschäftigt, reflektieren, z. B. macht es Sinn, mich für eine bestimmte Sache zu engagieren – wie steht es mit meiner Freiwilligkeit, worauf muss ich verzichten, wofür tue ich das und wäre dies ein zukunftsfähiger Beitrag?

Durkheim, der Soziologe, beschreibt Verzicht als das Erkennen der eigenen Begrenztheit im Kollektiv. Seit seiner denkwürdigen Vorlesung sind 120 Jahre vergangen. Inzwischen wissen wir, dieses Kollektiv ist global und auch unsere soziale Verantwortung darf nicht an den Landesgrenzen Halt machen.

Die Zufriedenheit

Birgit Stratmann von der Plattform ethik-heute schrieb mir vor kurzem: „In Ihrem Buch fand ich den Hinweis zu Samtosha: ’Zufriedenheit trotz Verzicht’. Sie schreiben von Selbstbeschränkung als Weg zu Freiheit und Zufriedenheit. Das ist wirklich hochaktuell.“

Samtosha, die Zufriedenheit, ist das zweite wichtige Prinzip der yogischen Selbstfürsorge (Niyama) und folgt auf das selbstreinigende Abstandnehmen (Saucha). Natürlich sind die Yama und Niyama-Prinzipien ineinander verschränkt – ich spüre nach innen und agiere nach außen. Es besteht also eine prozesshafte Beziehung zwischen dem Verzicht als soziale Tat und der inneren Zufriedenheit. In einer Leistungs- und Konsumgesellschaft ist das Image des Verzichts allerdings oft negativ besetzt, nahe dem Verlust. Auch die Qual des Verzichtenwollens oder -müssens erinnert an Moralinsaures. Im Gegensatz dazu darf sich die Zufriedenheit auf der Sonnenseite, bei den Glücksforschern, wähnen. Welche konstruktiven Verkettungen könnten trotzdem zwischen der Zufriedenheit und dem Verzicht bestehen?

Auf die Zufriedenheit folgt der Verzicht
Ich setze mich auf das Meditationskissen, atme aus, spüre mein Ankommen, mein Hiersein, aus dem Heilsames wachsen darf. Ganz automatisch lösen sich die starken Bindungen an meine Wünsche, werden all die Getriebenheiten einer sich im Außen spiegelnden Persönlichkeit schwächer. Wie wohl das tut! In diesem Zustand zunehmender Gelassenheit wachsen meinem Großmut Flügel, meine Bewertungen und all das, was mich hindert, lächelnd für eine gute Sache auf etwas zu verzichten, wird stiller. Vielleicht wandelt sich die Idee von Verzicht sogar in unvermutete Fröhlichkeit.

Auf den Verzicht folgt die Zufriedenheit
Ich starte in einem Alltagsszenario und verzichte freiwillig, möglicherweise schweren Herzens, vielleicht mit einem Anflug von Ärger. Ich tue es, weil meine inneren Mahner noch nicht verstummt sind, vielleicht habe ich über diesen Verzicht bereits nachgedacht, bin also nicht ganz unvorbereitet. Nach dem Akt des Verzichts, dem tatsächlichen Loslassen, suchen die Gedanken neue Ankerpunkte und finden naheliegenderweise die Freude über den Verzicht. Wie zur Belohnung stellt sich ein Gefühl von Zufriedenheit darüber ein, alte Muster überwunden zu haben. Ich erlebe das, wenn ich es schaffe, auf Süßes zu verzichten. Überwiegen Müdigkeit und Unkonzentriertheit, ist diese Übung allerdings viel schwieriger.

Vielleicht haben Sie beide Spielarten schon erlebt. Diese Erfahrungen können uns darin bestärken, den Verzicht in Zukunft nicht mehr als innere Schwäche, sondern als einen Akt großmütiger Einsicht zu erleben. Sagt sich leicht, ich weiß! Aber wir sollten nicht wie schlechte Politiker:innen vor anstehenden Wahlen das Unangenehme verschweigen, sondern den Verzicht in vielen kleinen Schritten ertragbar machen – zum Wohle aller. Und das möchte ich abschließend noch betonen: Die Freiwilligkeit gehört zwingend zur moralischen Tat. Wer sich den Verzicht nicht leisten kann, aus welchen Gründen auch immer, braucht ebenfalls unser Verständnis.

[i] Quelle: www.diepresse.com/5264108/religion-in-oesterreich-mehr-konfessionslose-mehr-muslime, 20.8.2022