Über die Alchemie des Übens

Über die Alchemie des Übens

Derzeit (SS 2021) halte ich einen Kurs für fortgeschrittene Yogaübende mit dem Titel »Vyana – Energie im Fluss«. Ich lasse mich dabei von den Ähnlichkeiten zwischen Yoga und Qigong inspirieren. Im Herbst 2010 habe ich schon einmal einen solchen Kurs angeboten, einige Übungen und Ideen sind über die Zeit hängengeblieben und Fixpunkte meines Unterrichts geworden.

Heuer im Frühling hat es mich wieder gepackt – die Lust auf Qigong-Übungen im Garten. In der Früh, draußen im Halbschatten, umgeben von aufblühenden Pflanzen und Bäumen. Die Energie in den Händen spüren, Himmel und Erde ansehen, das tut gut.

Beide Methoden, Yoga wie Qigong, beschreiben einen energetischen Weg, den eigenen Körper wahrzunehmen und mit achtsamen Körperübungen gesund zu halten. Die Konzepte, mit denen die Übungen erklärt werden, sind unterschiedlich, die Erfahrung selbst aber sehr ähnlich, wenn auch nicht gleich. Darum finde ich das Üben so inspirierend. Für jemanden, der gerne kocht und versteht, welche Prozesse sich in den Kochtöpfen abspielen, ist es inspirierend, auch einmal andere Kochrezepte zu lesen und auszuprobieren. Wie bereitet man Melanzani in Italien und wie im Vergleich dazu in Marokko zu? Wie behandelt man das Thema Strudel im Kulturraum Österreich-Ungarn und wie in der levantinischen Küche?

So ähnlich verhält es sich für mich mit dem Vergleich von Yoga und Qigong. Und mit den Garungsprozessen in den Kochtöpfen sind wir auch schon nahe an den energetischen Transformationsprozessen. Ob der Übende Qi abfüllt oder Prana strömen lässt, immer geht es dabei um Körpererfahrungen, die nur möglich werden, weil wir unseren Atem und unsere Konzentration auf diese Wahrnehmungen fokussieren. »Der alchemistische Schmelztiegel ist der Unterbauch«, schreibt Kenneth S. Cohen [1], in seinem Buch »Qigong. Grundlagen ­– Methoden ­–  Anwendung«. Ein Buch, das ich jeder und jedem wärmstens empfehlen möchte, der sich für das Thema Energiefluss interessiert.

Es gibt unterschiedliche Schriftzeichen für Qigong. Eines davon zeigt ein Reiskorn und darüber Dampf, ein anderes Feuer und darüber Dampf. [2] Zwei gegensätzliche Elemente, Feuer und Wasser, finden also im Üben zueinander und dadurch entsteht Neues – Dampf, Qi, Prana, Energie im Fluss. Während in der Qigong-Tradition, die ich gerade praktiziere, bei jeder Übung Qi entsteht und nach unten, zum Dantian im Unterbauch abgefüllt wird, üben wir im Yoga etwas anders. Zuerst wird der Körper mit Asana-Praxis aufgedehnt und der Atem in Fluss gebracht. Dann folgt Pranayama, die Kunst, den Atem zu verfeinern, zu verlängern und zu vertiefen.

In beiden Methoden nutzt man die Vorstellung von Energiekanälen, um die wahrgenommene heilsame Strömung sicher und rasch zu lenken. Die Wirbelsäule ist der Hauptenergiekanal im Yoga, Sushumna. Auch die Visualisierung durch die Körpermitte, vom Nabel zum Beckenboden, ist von zentraler Bedeutung. Entlang diesem inneren Lot sind die sieben Chakren angelegt.

Im Qigong kennt man auch diese Kanäle, Cohen [3] nennt sie Autobahnen. Und seit ich das gelesen habe, empfinde ich es auch so. Dumai, den Kanal am Rückgrat nennt er die Yangqi-Superautobahn. Ja wirklich, ich spüre es, die Energie schießt fröhlich hin und her, mindestens mit 160 km/h, besonders bei aktivierenden, auf- und abrollenden Bewegungen. Chongmai, die »Breite Troßstraße«, ist wiederum die innere Mittellinie. Und wirklich, ich fühle es, sie hat die Fähigkeit breiter zu werden, auch wenn sie sich anfangs wie ein Rinnsal anfühlt, das ich erstmal suchen muss.

Körpererfahrungen sind ein riesiger Erfahrungsschatz. Für mich als Lehrende sind sie eine Quelle von Inspiration – zum Nachfühlen, aber auch für konkreten sprachlichen Ausdruck beim Unterrichten.

Einen Aspekt, den ich heute unterrichtet habe, möchte ich abschließend noch niederschreiben:

Im Qigong spricht man den von den drei Schätzen [4], sie gilt es durch das Üben zu kultivieren: Jing, Qi und Shen. Jing ist die erdgebundene Energie, auch die Sexualkraft und die Gesundheit, Shen, die himmelsgewandte Energie, auch Geist und die Verbindung mit einer höheren Instanz, welche durch Meditation kultiviert wird. Qi ist weder das eine noch das andere. Es kann aber beide Eigenschaften verkörpern. Es gibt keine Wertung, zB himmelwärts ist besser oder erstrebenswerter als bodenwärts. Nein, das eine geht nicht ohne das andere. Natürlich üben wir im Yoga auch viel mit der Erde, mit Verwurzelung, Niederlassen und Hingabe an den Boden. Trotzdem, ein leichte Bewertung schwingt im Yoga, finde ich, mit. Vielleicht auch, weil Asana-Praxis auf einer unteren Stufe und Meditation auf höheren Stufen des Yogaweges angesiedelt ist. Ich möchte diese Wertung jetzt ganz bewusst loslassen.

Cohen [5] zitiert eine bekannte Qigong-Maxime: »Reinige Jing, um Qi zu schaffen; reinige Qi, um Shen zu schaffen; reinige Shen und kehre zurück zur Leere.« Und er erklärt den letzten Begriff so: »Mit der Leere ist der ursprüngliche Zustand des Menschen gemeint, die innere Reinheit, die noch nicht von Theorien und Vorstellungen vernebelt ist.« Dafür haben wir im Yoga auch einen Ausdruck, oder besser, eine moralische Verhaltensempfehlung (Niyama): die Reinheit (Saucha). Man kann diesen Begriff als ein Abstandgewinnen von allen Konzepten interpretieren.

 

[1] Kenneth S. Cohen: »Qigong. Grundlagen – Methoden – Anwendung«, Verlag O.W. Barth, 1997, Seite 560

[2] Cohen, a.a.o., Seite 75

[3] Cohen, a.a.o., Seite 90

[4] Cohen, a.a.o., Seite 84

[5] Cohen, a.a.o., Seite 90