Schach der Zeitnot

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Zeitnot äußert sich mit ähnlichen Symptomen wie die Atemnot, wenn auch nicht so akut lebensbedrohlich – bei mir z. B. als beklemmendes Gefühl in der Brust, als würgende Unruhe und sich auf den Magen schlagende Nervosität. Was kann ich tun gegen das Gefühl, mir laufe die Zeit ständig davon und dem damit einhergehenden scheinbaren Kontrollverlust über mein Tun?

Meistens bekämpfe ich solche Gefühle mit dem Schreiben von Todo-Listen, das beruhigt ein wenig und visualisiert Struktur. Noch besser ist es natürlich, wenn ich es bis auf die Yogamatte schaffe, tief in den Bauch atme und in meinem eigenen Tempo Atem und Bewegung verbinde. Wenn ich also in meiner eigenen Zeit übe und auf die objektiv messbare Zeit vergesse. Entschleunigung ist eine subjektive Erfahrung, auf die man sich vertrauensvoll einlassen darf. Und dann kann es passieren, dass die Zeit völlig an Bedeutung verliert und stillsteht – scheinbar – subjektiv – stillsteht.

Eine Stille, die gut tut. Warum suche ich dann – obwohl ich es also besser wissen müsste – auch Sonntag morgens hektisch meine Uhr, als könnte ich ohne sie nicht richtig funktionieren? Wäre es nicht viel interessanter, statt wie die Maus vor der Schlange gebannt auf das Ziffernblatt zu starren das Leben in vollen Atemzüge zu genießen, alleine, zu zweit, mit Freunden? Die Weihnachtsfeiertage bieten jedes Jahr eine geniale Chance für solche Zeit-Experimente, sofern sie als Arbeits- und Atempause genutzt werden können.

Und da gibt es noch etwas, das sich zu üben lohnt: die Nachdenk-Pause. Wir kennen sie zumindest von den Momenten, wo wir versonnen im Kaffee rühren, vielleicht auch von guten Gesprächen und natürlich auch vom Todo-Listen schreiben. Aber meist ist sie nur ein kurzer Zwischenstopp, ein Pausenfüller, im schönsten Fall Erinnerung: Doppelt lebt, wer auch Vergangenes genießt!

Ich habe jetzt in den Weihnachtsfeiertagen mit dem Schachspielen begonnen. Mein Gegner ist ein erfahrener und geduldiger Spieler. Am Anfang entschuldigte ich mich immer wieder für meine längeren Nachdenkpausen, bis er mir zu verstehen gab, dass das in Ordnung sei und Teil des Spiels. Profis denken bis zu sieben Zügen vor, meinte er ergänzend.

Noch immer ist es für mich nicht ganz leicht keinen Stress zu spüren, aber es wird zunehmend besser. Ich versuche die Pausen zu genießen, hinzuspüren in den Prozess des Nachdenkens. Die Welt reduziert sich auf ein Schachbrett, die Figuren darin nehmen Positionen ein, die zu hinterfragen sich stets auf´s Neue lohnt. Eine mit Macht ausgestattete Figur alleine ist noch kein Erfolgsgarantie, es braucht auch die richtige Position und die nötige Bewegungsfreiheit, um diese Macht entfalten zu können. Und kluge Rückendeckung sowieso. Welche Qualitäten liegen mir näher, worauf sollte ich mich konzentrieren? Auf das bewegliche Pferd, den über weite Strecken gefährlichen Läufer oder den Turm mit Steherqualitäten? Und auch ein einfacher Bauer kann in der richtigen Position einem König gefährlich werden.

Mich erinnern Schachfiguren an Yoga-Asanas, es braucht Zeit, um sich in ihre Aktionsform hineinzudenken, es braucht Zeit, um die subtilen Qualitäten der Form zu verinnerlichen, es braucht eben Nachdenk-Zeit und wie im Yoga auch regelmäßiges Üben.

Das Nachdenken vertieft den Atem, ich höre meinen Atem und auch den meines Gegners, und dabei kann es passieren, dann und wann, dass die Zeit sogar – ein wenig – scheinbar – subjektiv – stillsteht.