Mit ganzem Herzen dankbar sein

Dankbarkeit im Sinne von David Steindl-Rast als Inspirationsquelle für den Yoga-Unterricht

Das Gefühl der Dankbarkeit ist ein machtvolles Heilungswerkzeug, lässt uns unser Leben ganz, heil und sinnvoll erfahren – trotz verschiedenster schmerzvoller Erfahrungen.
Der gebürtige Wiener David Steindl-Rast ist Benediktinermönch und hat sich in den USA schon früh als Christ mit Zen-Meditation beschäftigt. Seit den 1970er Jahren setzt er sich intensiv für einen interreligiösen Dialog ein. Diese Haltung wird für mich auch aus seinen Worten spürbar – er ist ein begnadeter Brückenbauer und für mich einer der großen zeitgenössischen spirituellen Autoren.
In seinem erstmals 1983 erschienenen Buch „Fülle und Nichts“ geht es um das Ankommen in der Fülle des Seins, um ein Lebendigwerden, ein Aufwachen im Hier und Jetzt. Für Steindl-Rast ist dabei das Gefühl der Dankbarkeit jene zentrale Kategorie, die nicht nur uns Menschen über alle Konfessionen hinweg verbindet, sondern die uns auch den Weg zum Herzen als Erfahrungsgrund von Göttlichem bzw. von Sinnhaftigkeit zeigt.
Ich unterrichte nun zum zweiten Mal einen Kurs, in dem wir kapitelweise die Ansätze des Buches besprechen, mit unseren eigenen Alltagserfahrungen verknüpfen und dann die Begriffe in das Üben einfließen lassen.
Wie kann sich nun konkret ein Ankommen in der Dankbarkeit anspüren? Zuallererst braucht es die Fähigkeit das Geschenkhafte in unserem Leben überhaupt zu erkennen oder anders gesagt: es braucht das Talent, sich überraschen lassen zu können. Aus diesem ersten Staunen kann sich dann dankbares Wachsein entwickeln.
Nichts ist letztlich selbstverständlich im Leben und ein Regenbogen schon gar nicht. Schon Platon erkannte in der Überraschung den Anfang aller Philosophie.
Warum fällt es uns aber so schwer dankbar zu sein? Für Steindl-Rast geht es bei diesem Prozess um ein Ankommen mit dem Intellekt, dem Willen und auch mit dem Gefühl. Nur dann sind wir aus ganzem Herzen dankbar.
Es scheint also einfach und ist es doch nicht: ein Geschenk rein intellektuell als solches identifizieren zu können. Trägheit und Abgestumpftheit hindern uns oft daran, das Geschenkhafte überhaupt zu erkennen. „Ein Regenbogen? Schon tausendmal gesehen!“
Selbst wenn wir uns aber über unsere Abgebrühtheit hinwegsetzen, kann noch immer der Wille einem Gefühl der Dankbarkeit entgegenstehen. Ich erkenne zwar, dass ein Geschenk für mich am Tisch steht, ich weigere mich aber, es annehmen zu wollen. Vielleicht fürchte ich mich ja vor Abhängigkeiten? Vielleicht scheue ich vor vermeintlichen Gegenleistungen zurück? „Unabhängigkeit aber ist eine Illusion. (..) Tatsächlich geht es um die Wahl zwischen Entfremdung und gegenseitiger Abhängigkeit,“ schreibt Steindl-Rast.
Haben wir erst erkannt, welch ein wichtiges Band der Dankbarkeit uns Menschen miteinander verbindet, dann sollten wir infolge auch fähig sein, Freude darüber zeigen zu können. Sichtbare Dankbarkeit, die unsere Herzen öffnet und uns miteinander verbindet. Denn wer sich mit herabhängenden Mundwinkeln und leeren Augen bedankt, wird eher Beklemmung und Verständnislosigkeit ernten.
Wir sind erst am Buchanfang und schon gibt es viele Anregungen für konkretes Üben: So können wir das Neue staunend mit dem Einatmen wahrnehmen oder Überraschungen erleben, die sich im Nachspüren von Asana eröffnen, wie z.B. Aufdehnung, Freiheit oder Energiefluss. Mit Partnerübungen können wir das Band zwischen uns spüren und das innere Lächeln lässt uns auch in sichtbarer Freude strahlen.
„Dankbarkeit ist eine sinnvolle Geste des Herzens“, schreibt Steindl-Rast und weiter: „Dankbarkeit ist eine uneingeschränkte, eine volle innere Antwort. Wir spüren das.“
Etwas später bringt er einen weiteren Begriff ins Spiel, der uns Menschen über alle Konfessionen hinweg verbinden kann, das Wort Sinn: „Wie unsere Augen nur auf Licht und unsere Ohren nur auf Töne reagieren, so reagiert das Herz einzig auf Sinn. Das Organ für Sinn ist das Herz.“
In einem anderen Zusammenhang ersetzt Steindl-Rast, der geniale sprachliche Brückenbauer, das Wort Gott durch das Wort Sinn. Damit kann ich viel anfangen. Sinnhaftigkeit erleben ist heilsam, macht uns belastbarer. Inzwischen ist es sogar durch Studien erwiesen, dass Menschen, die sich ehrenamtlich betätigen, also intensiv sinnvolles Tun erfahren, eine längere Lebenserwartung besitzen.
Natürlich meint Steindl-Rast in letzter Konsequenz vor allem das Erkennen eines tieferen Sinns: „Ruht unser Herz an den Quellen allen Sinnes, dann kann es allen Sinn erfassen.“ Gott wird als Sinnquelle verstanden, der zumindest für Augenblicke den Durst des Herzens stillen kann.
Wie können wir nun vorstoßen zu diesen heilenden Ressourcen? Im Yogaunterricht mit Achtsamkeit und Sammlung.
Für Steindl-Rast besteht Sammlung aus zwei Teilen: Konzentration einerseits und Staunen im Sinne einer Haltung andauernder Überraschung andererseits. Während die Konzentration das Sichtfeld einengt, wirkt das Staunen expansiv. Nur scheinbar sind diese Begriffe allerdings gegensätzlich. In der Sammlung sollte beides möglich sein – das Herz überwindet dieses Paradoxon.
Sehr gut verständlich schlägt Meister Steindl-Rast dann auch die Brücke zurück zum Alltag, die ja auch wir Yogalehrenden immer wieder ansprechen. In der vorletzten Stunde habe ich dieses Thema im Kurs anhand von auf großen Zetteln geschriebenen Begriffen diskutiert. SCHAU und TAT sind zwei solche Begriffe. „In wahrer Kontemplation  bestimmt die Schau über mein Handeln. Aus der Schau entspringt die Aufgabe,“ schreibt Steindl-Rast. Nicht was mein Ego will, sondern die Erkenntnisse aus der Stille bestimmen mein Handeln. Diese Begriffspaar lasst sich auch mit SINN und ZWECK ersetzen. „Zweck ohne Sinn ist nichts als Schinderei.“
Erinnern wir uns: schon an früherer Stelle wurde das Wort Gott durch Sinn ersetzt. Ein Sinn, der sich aus der Schau in der Meditation erschließen kann. Voraussetzung dafür ist, dass wir Menschen finden, die sich Zeit dafür nehmen. Muße ist für Steindl-Rast kein Privileg, sondern die Tugend sich soviel Zeit zu nehmen, wie eine Aufgabe eben braucht. „Nur wenn wir zu den Sternen aufschauen, können wir den Sinn unserer Zwecke erkennen, nur wenn wir uns an die Arbeit machen, können wir die Forderungen unserer Schau in die Tat umsetzen.“
Diese Botschaft in unserer gehetzten Zeit zu vermitteln, ist gar nicht so einfach. Und noch etwas gehört dazu: Nicht nur Zeit, es braucht auch Mut um loszulassen – im Vertrauen auf die „Zuverlässigkeit im Herzen aller Dinge“. Dann können wir Lebendigkeit erfahren, staunend und zunehmend dankbar.

Fülle und Nichts.
von David Steindl-Rast, 6. Aufl. 2013
ISBN 978-3-451-05653-6

Alexandra Eichenauer-Knoll

Dieser Text wurde in der Yoga-Info 1.2014 veröffentlicht.